ALLEGORIE


 

  
EUGÈNE DELACROIX (1798 - 1863): DIE FREIHEIT FÜHRT DAS VOLK AN (1830) 

Leinwand, 260 x 325 cm
Louvre, Paris

 

 


  

  

  

Die eindrucksvollste Bildbeschreibung stammt von HEINRICH HEINE: ". .. trotz etwaiger Kunstmängel atmet in dem Bilde ein großer Gedanke, der uns wunderbar entgegenweht. Eine Volksgruppe während den Juliustagen ist dargestellt, und in der Mitte, beinahe wie eine allegorische Figur, ragt hervor ein jugendliches Weib, mit einer roten phrygischen Mütze auf dem Haupte, eine Flinte in der einen Hand, und in der anderen eine dreifarbige Fahne. Sie schreitet dahin über Leichen, zum Kampfe auffordernd, entblößt bis zur Hüfte, ein schöner, ungestümer Leib, das Gesicht ein kühnes Profil, frecher Schmerz in den Zügen, eine seltsame Mischung von Phyrne [berühmteste Hetäre Athens], Poissarde [Fischweib] und Freiheitsgöttin. Daß sie eigentlich letztere bedeuten solle, ist nicht ganz bestimmt ausgedrückt, diese Figur scheint vielmals die wilde Volkskraft, die eine fatale Bürde abwirft, darzustellen. Ich kann nicht umhin zu gestehen, diese Figur erinnert mich ... an jene Schnelläuferinnen der Liebe oder Schnelliebende, die des Abends auf den Boulevards umherschwärmen; ich gestehe, daß der kleine Schornsteincupido, der, mit einer Pistole in jeder Hand, neben dieser Gassenvenus steht, vielleicht nicht allein vom Ruß beschmutzt ist... daß der Held, der mit seinem Schießgewehr hinstürmt, in seinem Gesichte die Galeere und in seinem häßlichen Rock gewiß noch den Duft des Assisenhofes [Schwurgerichts] trägt; - aber das ist es eben, ein großer Gedanke hat diese gemeinen Leute ... geadelt und geheiligt und die entschlafene Würde in ihrer Seele wieder aufgeweckt" (Heinrich Heine: Gemäldeausstellung im Salon 1831; in: Sämtliche Werke. Bd. 3. München: Hanser Verlag 1971, S. 39f).

 

"Delacroix besaß kein Organ für die Politik. "Die Moralisten und Philosophen", vertraute er bei Gelegenheit seinem Tagebuch an, "ich meine wirkliche wie Mark Aurel und Jesus, sprachen niemals über Politik . . . Gleiche Rechte und derlei Hirngespinste kümmerten sie nicht." Noch kümmerten sie Delacroix. Gesellschaftliche Reformen waren ihm gleichgültig, und Unterhaltungen mit Politikern langweilten ihn.

Dennoch nötigte ihm Frankreichs politische Krise im Juli 1830 Aufmerksamkeit ab. Politik betraf jetzt jeden; in den Tagen der Revolution nicht ausgetragene Kämpfe um die Freiheit wurden jetzt ausgefochten - und diesmal sozusagen vor Delacroix' Haustür.

Die Unruhen entsprangen direkt den Bestrebungen der wiedereingesetzten Bourbonen, zu den alten monarchischen Verhältnissen zurückzukehren. Ludwig XVI., 1793 hingerichtet, war von zwei Brüdern überlebt worden, von denen der eine 1814 aus seinem englischen Exil herbeigerufen wurde, um als Ludwig XVIII. die Herrschaft anzutreten. Gemäßigt und vorsichtig - zumindest, soweit dies einem Bourbonen möglich war - verfolgte er eine Politik, die der brillante Liberale jener Zeit, Alexis de Tocqueville, als "Verbindung des modernen Freiheitsbegriffs mit den Grundsätzen des ancien regime" beschreiben konnte. Doch als Ludwig XVIII. 1824 starb, waren die ultra-royalistischen Kräfte in der Regierung erstarkt. Als sein jüngerer Bruder Karl X. mit mittelalterlichem Prunk in der Kathedrale von Reims gekrönt wurde, schien das ancien regime wiederaufzuerstehen.

Karl X., 67 Jahre alt und ein echter Nachkomme seiner Vorfahren, war ebenso reaktionär wie unbesonnen. Er führte die früheren Titel wieder ein und ließ durchblicken, daß er damit auch die alten Privilegien meinte. Er plante, den vertriebenen Aristrokraten eine Milliarde Francs als Entschädigung für ihren während der Revolution verlorenen Besitz zu zahlen. In einem Anfall von Ärger löste er die Nationalgarde auf, eine Bürgerwehr, die ihm im Grunde ergeben war. Er kündigte die Abmachungen von 1814 auf, weil er sie als Beschränkung seiner Macht empfand. Am 25. Juli 1830 schließlich erließ er vier Verordnungen, kraft derer die Pressefreiheit abgeschafft, die Deputiertenkammer aufgelöst und der Wahlmodus so manipuliert wurde, daß viele Kaufleute und aufsteigende Industrielle um ihr Stimmrecht gebracht wurden.

Binnen drei Tagen war die Stimmung der Bevölkerung auf dem Siedepunkt. Und als die Polizei einige Zeitungs-Redaktionen, die gegen den Willkürakt des Königs protestiert hatten, besetzte, versammelten sich die aufgebrachten Bürger, um sich zur Wehr zu setzen. Paris bot wieder den Anblick wie zur Zeit der Revolution. Die Nationalgarde richtete gegen den König, der sie aufgelöst hatte, die Waffen. Delacroix und sein Malerfreund Eugene Lami gingen auf die Straße, um die Kämpfe zu beobachten, die an beiden Seiten der Seine, nicht weit von seinem Atelier am Quai Voltaire entfernt, ausgebrochen waren. Alexandre Dumas war, mit seiner doppelläufigen Flinte bewaffnet, schon zur Stelle. Der junge Honore Daumier, bald als Karikaturist und Maler der Pariser Bevölkerung bekannt, erhielt einen Säbelhieb ins Gesicht. Nur wenige Schriftsteller blieben fern: Stendhal weilte zu Hause mit einer Freundin, Victor Hugo blieb bei seiner Frau, die am 24. Juli mit einer Tochter niedergekommen war. Doch Studenten, Geschäftsleute, Schauspieler, Arbeiter aller möglichen Berufe nahmen an der Revolution teil. Zum ersten Male kämpfte hoch und niedrig Seite an Seite.

Je heftiger der Kampf wurde, desto mehr nahm der ganze Aufstand den Charakter eines von Dumas inspirierten romantischen Dramas an. Versuchten die königlichen Truppen, sich ihren Weg durch enge Straßenzüge freizuschießen, so ließen die Aufständischen Möbel aus den Fenstern stürzen, gruben Pflastersteine aus und ließen sogar Wagenladungen von Melonen zur Verstärkung der Schutzwehren heranschaffen. Der Direktor eines Vaudeville-Theaters lieferte Gewehre aus dem Theaterfundus. Als ein zufällig vorbeikommender Medizinstudent einem kleinen Geschäftsmann eine Kugel aus dessen Wunde entfernte, küßte der Sterbende sie und sagte: ,,Bringt sie meiner Frau." Ein zwölfjähriger Junge, der einen königlichen Offizier ins Jenseits befördert hatte und selbst ernsthaft verwundet war, tat das Lob seiner Kameraden mit den Worten ab: ,, Vaterlandsliebe läßt einen Jungen schnell zum Manne reifen."

Anfangs nahm Karl X. den Aufstand auf die leichte Schulter, doch am 3. August hatte er abgedankt und befand sich im englischen Exil. Sein Nachfolger, eingesetzt von Adolphe Thiers und Marquis de Lafayette - dem einstigen Förderer der jungen amerikanischen Republik, der sich jetzt im ehrwürdigen Alter von 73 befand -, war der Bürgerkönig Louis-Philippe. Sproß des Hauses Orleans, gab er sich dennoch bescheiden und anspruchslos wie ein Bürger: er trug einen Regenschirm, stand früh auf und ging zu Fuß durch die aufgeweichten Straßen. Als erster französischer König war er in den Vereinigten Staaten gewesen, vier Jahre lang hatte er dort gelebt. Seine fünf Söhne besuchten gewöhnliche Schulen, und während seines Exils in England hatte er Mangel und Entbehrung kennengelernt.

Bald nachdem der König den Thron bestiegen hatte, machte Delacroix sich daran, auf einem außerordentlichen Gemälde mit dem Titel Der 28. Juli 1830 die Julirevolution zu verherrlichen. Im September hatte er entschieden, welches die beherrschenden Farben sein sollten, und seinem Farbenhändler einen entsprechenden Auftrag gegeben: er nahm, scheinbar banal, die Farben der Trikolore, Rot, Weiß und Blau. Doch handhabte er sie mit der größten Zurückhaltung und Feinfühligkeit: das fertige Bild besaß eine Art apokalyptischer Helligkeit, in die das Motiv der Trikolore völlig eingebunden war.

Im Oktober schrieb er an seinen Bruder, den pensionierten General: "Ich arbeite an einem aktuellen Stoff, einer Barrikade . . . Habe ich schon nicht gekämpft, so will ich zumindest für unser Land malen!"

Nachdem er etliche Skizzen von Straßenkämpfen, Einzelfiguren und Gruppen, gemacht hatte, begann er sein Bild um eine allegorische Frauengestalt herum, welche die Freiheit darstellte, aufzubauen. Ein kühner Entwurf: eine hehre symbolische Frauengestalt inmitten des Gefummels und der blutüberströmten Opfer eines wirklichkeitsnahen Kampfgeschehens. Doch Delacroix konnte nie der Versuchung widerstehen, Widersprüchliches in Harmonie miteinander zu bringen, und hatte nicht Goethe über ihn geäußert, daß er sich ,,zwischen Himmel und Erde ... wie in dem Seinigen" ergehe ?

Den Vordergrund nimmt ein Leichenfeld ein. Die Toten und Sterbenden liegen in erbarmungswürdigem Zustand da. Weiter oben der rauchverhangene Kampfplatz. Von beiden Seiten drängen Aufrührer in bürgerlicher Kleidung heran, die, von dem Jungen mit Barett, der seine Pistolen schwingt, als spiele man Räuber und Gendarm, bis zu dem nachdenklichen Studenten mit Zylinder, eine bunt zusammengewürfelte Armee bilden. Von letzterem wird gesagt, daß Delacroix ihm seine eigenen Gesichtszüge geliehen habe; tatsächlich ähnelt er einem seiner Selbstporträts.

Im Mittelfeld des Bildes blickt ein Verwundeter, der sich auf seine Arme stützt, hingerissen zu der Gestalt der Freiheit empor, die, irdischem Hader enthoben, die Fahne Frankreichs trägt. Delacroix hatte den Mut, diese Fahne vom Bildrand beschneiden zu lassen; er verstärkte damit den Eindruck spontanen Geschehens: der Betrachter hat das Empfinden, als schreite die Gestalt der Freiheit auf ihn zu.

Delacroix' Darstellung der Freiheit als einer Gestalt, die halb Göttin und halb Frau aus dem Volk ist, scheint sich auf viele Einnüsse zurückleiten zu lassen. Ein im Sommer 1830 weit verbreitetes Gedicht beschrieb die Freiheit als ,,starke Frau mit mächtigen Brüsten, rauher Stimme und robustem Charme". Eine ähnliche Gestalt begegnete Delacroix auf einer Illustration zu Byrons Childe Harald. Und zweifellos hatte er nicht die Geschichte vergessen von der jungen Näherin, die die Erschießung ihres Bruders an den Barrikaden rächte, indem sie neun Soldaten der Schweizergarde tötete.

Eine schöne Stelle des Bildes, die in dem allgemeinen Aufruhr, von dem es beherrscht ist, leicht übersehen wird, ist der flüchtige Blick durch den Pulverdampf hindurch auf das alte Paris mit Notre Dame, auf deren Turm eine winzige Trikolore flattert, sowie einer Front alter Häuser, die hinfällig und altersschwach wirken. In ihrer nüchternen Einfachheit nehmen sie die Bilder Daumiers und in ihrer düsteren Melancholie die Gedichte Baudelaires vorweg.

Als Der 28. Juli 1830 im Salon von 1831 ausgestellt wurde, war die Aufnahme wie immer zwiespältig, überwiegend ablehnend. Die Kritiker beanstandeten, daß das Bild "eine Diffamierung" jener fünf ruhmreichen Tage und die Freiheit "unedel" sei, und stießen sich daran, daß die Aufrührer, Straßenjungen und Arbeiter, einer niedrigen Gesellschaftsschicht entstammten. Diffamierung oder nicht, die Regierung kaufte das Bild für 3000 Francs; es sollte als stete Ermahnung des neuen Königs im Thronsaal des Palais du Luxembourg hängen. Statt dessen hing es einige Monate lang in der Galerie des Palastes. Als die Zeiten schwieriger wurden, verletzte sein aufwiegelnder Charakter den offiziellen Geschmack, es wurde entfernt. Man gestattete Delacroix, es in die Obhut seiner Tante Felicite zu geben. Nach der Revolution von 1848 wurde es wieder für kurze Zeit ausgestellt, danach noch einmal zur Weltausstellung von 1855. Heute hängt es im Louvre zusammen mit vier anderen Gemälden von Delacroix, darunter Sardanapal und Frauen von Algier; dem Werk, das die Franzosen vor einem Jahrhundert so aufrüttelte, ist kein Ehrenplatz eingeräumt."

(Quelle: Tom Prideaux: Delacroix und seine Zeit, Time-Life Die Welt der Kunst 1971)

  


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