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CHARLIE DESSAU - TEXTE

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"Schnipsel-Bilder aus der Wirklichkeit

Von Sven Gösmann (Braunschweiger Zeitung, 7.Januar 1990)


Die Sonne schickte ihre schrägen Strahlen ins Klassenzimmer. Auf meinem Pult zeichneten sie kleine Schatten. Es roch nach Leim und Farbe, am Pulloverärmel klebten Papierschnipsel. Tisch und Fußboden waren übersät mit Zeitungen. Katalogen und Fotos. Vor der Tafel ging die Autorität auf und ab: mein Lehrer. Zwei Stunden zuvor war er in den Raum gefedert und hatte, ein Stück Kreide jonglierend, gesagt: „Heute machen wir Collagen. Mein Blick für Kai neben mir auf der Bank war ein einziges Fragezeichen: "Collagen, was ist das nun schon wieder?". Er zuckte mit den Schultern und sandte mir seinen Auch-das-geht-vorüber-Blick zu. Kaum aber waren Leim und Schere verteilt, hatte es mich erwischt. Ich schnitt aus, klebte zusammen, riss auseinander und klebte neu zusammen. Zeitungsseite um Zeitungsseite wanderte zerfetzt in den Papierkorb. Schließlich hatte ich ein Bild vor Augen: Ein Dschungel sollte es sein, mit Tigern und Elefanten, Zebras und Nashörnern, dazwischen meine liebsten Fernsehhelden, die bezaubernde Jeanie und das Duo von San Franciscos Straßen. Eine gewagte Vorstellung, doch damals schlüssig wie sonst nur irgendwas. Stunden später, die Finger leimverklebt, die Schere stumpf, betrachtete ich mein Werk mit triumphierendem Blick: Meine erste Collage. Und dass zuhause meine Mutter beim Anblick der Klebstofflecken auf dem Pullover den Nachtisch strich, was machte das schon?

Die Jahre gingen ins Land, der papierne Dschungel war längst vergessen, Collage war ein ein fernes, fremdes Wort in irgendeiner Ecke des Sprachschatzes geworden. Dann kam diese Begegnung. Irgendwo, meldete das Feuilleton, hatte man Collagen von Max Ernst ausgestellt. Daneben war ein Bild zu sehen – ein Schnipselstilleben aus Pinsel, Hut, Weinglas und Obst. Erinnerungen wurden wach. Tage später die nächste Begegnung mit der Vergangenheit.

Charlie Dessau heißt der Mann, 38 Jahre ist er alt und im Zivilleben Sozialarbeiter im Braunschweiger Jugendamt. Doch hier, in diesem kleinen Raum, vollgestopft mit „Stern" und „Spiegel", „Life" und „Zeit-Magazin", war er Künstler. Überall stapelten sich Zeitungsausschnitte. Papier, Papier, Papier. „Mein Reich", ein leise gesagter Satz, doch voller Stolz. Collage, Fluchtburg vor der Wirklichkeit, Spiel mit den Elementen der Realität. Wir schneiden die Welt aus und stellen sie neu wieder zusammen. Ganz so wie die, die die Collage erstmals zur Perfektion brachten.

Der Name verrät die französische Herkunft: von collés, dem französischen papiernen Klebebild, kommt der Begriff. Ganz oder teilweise auf eine Fläche aufgeklebt, verfremdet oder im ursprünglichen Zustand belassen, so zeigten Pablo Picasso und Georges Braque der Pariser Bohème ihre Klebebilder. Aus der fleißigen Klebearbeit im Atelier machten sie eine Kunstform. Textilien, Draht, Vogelfedern, alles wurde neu zusammengefügt Ganze Objektcollagen entstanden. Dadaisten und Surrealisten entdeckten die neue Form. Zum Beispiel Max Ernst: Er entwickelte die Collage zur ergänzenden Kunstform, zur Illustration anderer Ausdrucksformen. 1922 fertigte Ernst Collagen zu Gedichten von Paul Eluard. Ernst perfektionierte die Schnittkunst. Keine Unstimmigkeiten waren zu finden in seinen Bildern. Die Proportionen stimmten, die Schnittstellen blieben unsichtbar. Der Künstler, seine Vorgänger und Nachfolger, gingen zumeist nach einer bewährten Methode vor bei ihrem Versuch, die Collage zu vervollkommnen. Max Ernst zeichnete seinen Entwurf der Collage, sammelte das Material, ergänzte das Klebebild mit zeichnerischen Elementen und ließ eine Druckform herstellen. Erst durch die Reproduktion des Werkes wurde die perfekte Suggestion erreicht. Nichts verrutschte, nichts ließ sich abreißen, nichts hob sich ab.

Die Botschaft: Alles ist echt. Tapeten, Metall, Papier, Holz, Textilien – nichts, was es nicht gab, bei dem Versuch, der real existierenden Umwelt eine eigene Version von Realität entgegenzuhalten. Der Brockhaus erklärt, was die Collage bewirken sollte: „Die Collage schafft durch die verfremdende Zusammenstellung vieler verschiedenartiger Realitätsfragmente sinnfällige Gleichnisse oder absurde Weltbilder." Stichwort absurd: Vielleicht versagte die Gesellschaft der Collage deshalb den ganz großen Durchbruch, weil das Verständnis fehlte. Hier stellt sich die Frage nach dem Warum. Die Dadaisten entdeckten ihre Collage als Form der Kunst, als Form der Provokation. Von Kurt Schwitters bis Marcel Duchamp galt: Wichtig ist die Zusammenstellung, nicht die Herstellungsform. Dada erklärte zur Kunst, was zur Kunst erklärt werden könnte. Oder, anders gesagt: Alles ist Kunst und nichts ist Kunst. Diesen provokativen Gedanken griff später Joseph Beuys auf. Er versah Dinge des täglichen Gebrauchs mit dem Etikett „Kunst" und teilte die Gesellschaft in Gegner und Anhänger. Immerhin vermochten die traditionellen und die „modernen" Dadaisten das Gespräch über Kunst wieder zu beleben. Vielleicht wurde die Collage nie museumsreif. Aber sie beeinflusste die gesamte Diskussion darüber, was denn nun museumsreif sei.Doch die umstrittene Kunstform wurde auch Schulstoff. Bequeme Möglichkeit, ganze Generationen von Pennäler ohne Zeichentalent kreativ werden zu lassen.Die Fähigkeit zur neuen Komposition des Dagewesenen sollte gefördert werden, aus der Kunst wurde Schablone.Den Schritt zurück wagt einer wie Charlie Dessau. Mit Erfolg: „Die Reaktionen sind positiv. Es ist eine rein geschmackliche Form des Urteils."Tage, mitunter Wochen sitzt er in seinem kleinen Atelier. An der Wand die Beschäftigung mit der Politik. Eine Halbnackte mit dem neuesten Gaultierfummel zwischen Chinesen im Mao-Anzug. Charlie lacht, wird dann ernst, Nicht alles ist immer lustig: „Ein Versuch, den Aufbruch zur neuen, zur eigentlichen Kulturrevolution darzustellen“, sieht er in seinem Bild. McDonalds am Platz des Himmlischen Friedens – das sei die eigentliche Revolution. Ein düsterer Himmel, darin ein roter Mund. „So habe ich mir Gott nicht vorgestellt“, könnte darunter stehen. Die Frau auf dem Surfbrett inmitten der tosenden Wellen. Ein moderner Poseidon.Stichwort modern: Ist die Collage eine moderne Kunst? Dessau wiegt bedächtig den Kopf.Modern? Was heißt das im Zeitalter des Computers, der oft viel schneller vermeintlich unabhängige Elemente zusammenfügen kann? Und was heißt das in einer Zeit, in der die Welt immer wieder absurd erscheinende Konstellationen ermöglicht? Rechte arbeiten mit Linken zusammen. Die Todfeinde von gestern sind heute Freunde. Die vor Jahren noch unbezwingbar erscheinende Natur ist brutal unterworfen worden.„Collagen“, sagt Charlie und streicht über eine der unsichtbaren Schnittstellen auf dem vor ihm liegenden Blatt, „Collagen sind Reisen in die Welt der Phantasie, der positiven wie der negativen. Das sind Reisen, die ich mir selber gestalten kann.“ Und die Nachmittagssonne fällt wieder auf den Tisch, spiegelt sich in einer der unzähligen Scheren, der Strahl wirft einen Fleck auf einen Stapel Zeitungen im Regal. Es riecht nach Leim und Papier. Wie damals.
 
 

 
 

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